Um Jugendliche ernsthaft auf die "digitale Welt" vorzubereiten,
braucht es mehr Informatik im Unterricht.
Der politische Diskurs zur digitalen Bildung fokussiert oft auf den kompetenten Umgang mit digitalen Medien im Unterricht, wie etwa Tablets oder Smartphones. Angesichts der Ergebnisse von Mediennutzungsuntersuchungen wie zum Beispiel den jährlichen JIM-Studien, die das breite und oft vorunterrichtliche Mediennutzungsverhalten junger Menschen dokumentieren, und Untersuchungen zur Informations- und Computerkompetenz im internationalen Vergleich (ICILS-Studie) ist das auch zweifellos richtig und wichtig. Angesichts der Schnelllebigkeit digitaler Medien reicht das allein jedoch nicht aus, will man nicht, dass das in der Schule erworbene Wissen beim Eintritt in die Berufswelt bereits wieder veraltet ist.
Ganze wissenschaftliche Disziplinen verändern sich hinsichtlich Informations- und Erkenntnisgewinnung, Kommunikation und Produktion. Nicht nur digitale Medien als fertige Produkte, sondern auch Methoden und Arbeitsweisen der Informatik finden in vielen Bereichen Einsatz, beispielsweise Mustererkennungsverfahren bei der automatischen Bildanalyse (zum Beispiel Gesichtserkennung, Computertomografie), Simulationen in der Strömungsmechanik zur Optimierung des Luftwiderstands oder Verfahren der Spieltheorie bei der Optimierung von Entscheidungen in der Wirtschaft.
Kinder und Jugendliche brauchen mehr als Anwenderkenntnisse
Spätestens mit der vierten Stufe der Industrialisierung (Industrie 4.0), also der Nutzung von Digitalisierung, Vernetzung und Automatisierung auch in der Wirtschaft, ist auch der Erwerb informatischer Kompetenzen notwendig geworden.
Im Physikunterricht erlernen Schülerinnen und Schüler beispielsweise, wie elektrische Schaltungen und ein Antrieb eines Fahrzeugs funktionieren, im Chemieunterricht befassen sie sich mit wesentlichen Komponenten wie Kunststoffen, Öl und Benzin, im Biologieunterricht mit Auswirkungen auf die Umwelt. All diese Kenntnisse sind geeignet, damit Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mit Begegnungen mit Fahrzeugen im Alltag zusammenhängenden Phänomenen einerseits für sich selbst Erklärungen entwickeln und andererseits auch aktiv am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben können. In entsprechender Weise brauchen auch informatische Grundlagen einen verbindlichen Ort im Schulcurriculum, denn schon heute sind die Fahrzeuge hochgradig vernetzte Informatiksysteme, in denen vielfältige eingebettete Systeme miteinander kommunizieren, und der Trend zu selbstfahrenden Fahrzeugen nimmt gerade erst richtig Fahrt auf.
Um in entsprechender Weise mit Phänomenen der "digitalen Welt" umgehen zu können, bedeutet das aber, dass es nicht nur ausreicht "Algorithmen zu erkennen und zu formulieren", wie die KMK in ihrem Strategiepapier zur Bildung in der digitalen Welt (S. 16) fordert. Alle Schülerinnen und Schüler benötigen in völliger Analogie zu anderen Schulfächern auch Grundlagen zu Informatiksystemen. Das bedeutet: Wie werden Informationen der Lebenswelt eigentlich digitalisiert und zu Daten? Wie können sie mittels Algorithmen und Datenstrukturen verarbeitet und über Netze transportiert werden? Welche Wirkungen auf Individuum und Gesellschaft ergeben sich?
Ohne Informatik keine "digitale Welt"
Wenn wir wollen, dass zukünftige Generationen kompetent in der durch Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung geprägten Arbeitswelt agieren, ja diese aktiv mitgestalten, dann müssen wir Informatik genauso selbstverständlich als Pflichtfach an Schulen etablieren wie Physik, Chemie oder Biologie und dieses Fach von dazu ausgebildeten Lehrkräften unterrichten lassen. Das bedeutet nicht, andere wichtige Ziele schulischer Bildung zu vernachlässigen oder identifizierten Schwächen nicht auch mit Nachdruck nachzugehen. Wir können aber nicht länger so tun, als habe Digitalisierung nichts mit Informatik zu tun. Ohne Informatik gäbe es keine "digitale Welt". Wer Schüler ernsthaft auf die "digitale Welt" im privaten wie im beruflichen Sinne vorbereiten möchte, muss das auch im Hinblick auf die Informatik machen. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten.
Autor des Beitrags:
Prof. Dr. Torsten Brinda
Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Informatik an der Universität Duisburg-Essen und Sprecher des Fachbereiches "Informatik und Ausbildung/Didaktik der Informatik" der Gesellschaft für Informatik