Future Skills
Meinungen

Wissen generieren,
nicht reproduzieren

Warum wir Lernen
neu organisieren müssen

Unser Bildungssystem steht unter massivem Veränderungsdruck. Internetfähige Allzweckgeräte im Hosentaschenformat – laut der letzten JIM-Studie besitzen mittlerweile 97 Prozent der Zwölf- bis 19jährigen ein eigenes Smartphone – revolutionieren die Art und Weise, wie wir uns Wissen aneignen und lernen. YouTube-Tutorials fordern den klassischen Unterricht heraus; reines Faktenlernen scheint immer weniger zeitgemäß, wenn das gesammelte Weltwissen stets nur einen Klick entfernt ist. Auch die Frage, was wir lernen – welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Eigenschaften, welche Future Skills wir als mündige Bürgerinnen und Bürger in einer zunehmend vernetzten, digitalen Welt eigentlich brauchen –, muss von Grund auf neu beantwortet werden.

Dass sich etwas ändern muss, ist also klar. Aber wie? In der Debatte über Bildung im digitalen Zeitalter dreht sich in Deutschland aktuell viel um neue Kompetenzraster und den Einsatz digitaler Medien im Unterricht, um die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und natürlich um die digitale Infrastruktur und technische Ausstattung von Schulen. Nichts davon ist falsch. In allen genannten Bereichen besteht dringender Handlungsbedarf.

Dennoch werden die Anstrengungen ins Leere laufen, solange sie die eigentliche Herausforderung durch die digitale Transformation nicht in den Blick nehmen. Die lässt sich in aller Kürze so beschreiben: Unser Bildungssystem hat ein Geschwindigkeitsproblem. Die Realität ist schneller als unsere Planungsprozesse. Bis Kommissionen neue Inhalte für Lehrpläne und Prüfungsordnungen verabschiedet haben, stehen die nächsten Themen auf der Agenda. Bis die Lehrerausbildung neu ausgerichtet ist, haben sich die Anforderungen erneut gewandelt, und technische Geräte, die wir heute anschaffen, sind morgen vielleicht schon veraltet. Deshalb ist die Frage, die wir uns vor allen anderen stellen müssen: Wie organisieren wir Lernen in unserer Gesellschaft so, dass es mit der rasanten Veränderungsdynamik Schritt halten kann?

Meine Antwort lautet: Indem unsere Bildungseinrichtungen selbst zu beweglichen, lernenden Organisationen werden, die Wissen nicht nur reproduzieren, sondern auch selbst generieren. Wie kommen wir dahin? Das werden wir nur herausfinden, indem wir uns mit viel Neugier, Experimentierfreude und Mut auf den Weg machen. Einen Masterplan für diese Transformation gibt es nicht. Es lassen sich aber sehr wohl ein paar Wegweiser beschreiben, an denen wir uns auf der Reise in die Zukunft orientieren können. Hier sind drei Vorschläge:

  • Mehr Verantwortung vor Ort: Statt mehr Stoff, mehr Vorgaben, mehr Kontrolle brauchen wir das genaue Gegenteil, nämlich größtmöglichen Gestaltungsspielraum für die handelnden Personen vor Ort. Lehrende und Lernende müssen die Freiheit haben, aktuelle Themen aufzugreifen, ihren Interessen nachzugehen, eigene Fragestellungen zu entwickeln und mit neuen Lernsettings zu experimentieren. Es gibt Schulen, die bereits erfolgreich zeigen, wie das gehen kann und wie sich gerade in einem offenen Umfeld ganz unterschiedliche Talente entfalten können.
     
  • Öffnung: Räumlich separiert und einem ganz eigenen Zeitrhythmus unterworfen, stellen unsere Bildungseinrichtungen Parallelwelten dar, in die die Lebens- und Arbeitswelt, auf die sie vorbereiten sollen, nur gefiltert, aufbereitet in Wissens- und Unterrichtseinheiten, Eingang findet. Diese künstliche Abgrenzung funktioniert heute nicht mehr. Sie überfordert die Lehrenden, die in immer kürzeren Abständen immer neue Themen und Herausforderungen bearbeiten sollen. Und sie verstellt den Blick darauf, dass Lernen eben nicht nur in der Schule, sondern immer und überall stattfindet. Werden nicht gerade die sogenannten 21st Century Skills – Kreativität, kritisches Denken, die Fähigkeit, zu kommunizieren und zu kooperieren – genauso im Fußballverein, im Theater-Workshop oder beim Computerspielen trainiert?
     
  • Vernetzung: Es ist an der Zeit, Lernen nicht in Institutionen, sondern in Möglichkeiten zu denken. Mit diesem Perspektivwechsel erschließen sich ganz neue Ressourcen. Viele sogenannte dritte Orte wie Bibliotheken, Museen, Vereine, Nachbarschaftszentren oder auch das Unternehmen um die Ecke können Lernorte sein. Darin steckt ein Potenzial, das sich besonders dann entfalten kann, wenn aus dem bloßen Nebeneinander ein bewusstes Miteinander wird; wenn Schulen beginnen, sich als zentrale Knotenpunkte in regionalen Netzwerken für Lernen und Innovation zu verstehen.

Lernen im digitalen Zeitalter neu zu organisieren, bedeutet also vor allem eines: eine gemeinschaftliche Herausforderung für Regionen. Mit dem 2018 gestarteten Wettbewerb Digital Skills. Lernen in regionalen Netzwerken suchen Körber-Stiftung und Stifterverband in ganz Deutschland nach konkreten Beispielen, wie es Partnern aus Schule und Hochschule, Kommune, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gelingt, gemeinsam ein lebendiges Ökosystem für Lernen und Innovation zu schaffen. Von diesen Vorbildern können wir alle lernen. Denn die Skills von morgen – die Future Skills – gedeihen nicht in den Strukturen von gestern.

 

Julia André (Foto: Jann Wilken)
Foto: Jann Wilken

Autorin des Beitrags:
 
Julia André​
Bereichsleiterin Bildung bei der Körber-Stiftung